Abgrenzung zwischen Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit
Bundessozialgericht, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R
Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nur bei Selbstständigkeit
Eine Befreiung von der Pflicht zur Abführung von Beiträgen an die gesetzlichen Sozialversicherungen kann nur bei Selbstständigen erfolgen. Von selbstständiger Tätigkeit kann bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) immer dann ausgegangen werden, wenn ein Gesellschafter-Geschäftsführer eine Kapitalbeteiligung von mindestens 50% hält oder wenn er über eine Sperrminorität verfügt. Kann eine selbstständige Tätigkeit nicht eindeutig festgestellt werden, so sind die allgemeinen Voraussetzungen für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zu prüfen.
Betriebsleiter eines Familienunternehmens möchte von der Rentenversicherungspflicht befreit werden
Der Kläger arbeitete ab 1986 aufgrund eines Anstellungsvertrags vom 11.02.1986 erst als Schlosser und dann als Betriebsleiter einer von seinem Vater geführten GmbH. Der Vater war bis zu seinem Tod am 11.05.2001 alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer, hatte jedoch aus gesundheitlichen Gründen bereits 1996 dem Sohn den technischen und gewerblichen Teil des Unternehmens und der Tochter den kaufmännischen Teil übergeben. Die beiden Kinder erhielten laut einer Niederschrift vom 30.04.1996 eine Gewinntantieme, konnten die Arbeits- und Urlaubszeit nach Lage der Gesellschaft frei bestimmen und der Vater verzichtete auf das Weisungsrecht. Nach dem Tod des Vaters erbte die Ehefrau die Geschäftsanteile, die den Sohn mit Dienstvertrag vom 31.08.2001 zum Geschäftsführer bestellte.
Am 30.11.1999 beendete der Kläger seine Mitgliedschaft in der beklagten Krankenkasse, in der er seit 1986 (seit 01.01.1996 aufgrund freiwilliger Versicherung) Mitglied war. Die neu gewählte Krankenkasse hatte festgestellt, dass der Kläger in seiner Tätigkeit für die Familiengesellschaft für spätere Zeiträume nicht versicherungspflichtig in der Rentenversicherung gewesen sei. Deswegen beantragte der Kläger eine entsprechende Beurteilung auch für den (nun streitigen) Zeitraum 30.04.1996 bis 30.11.1999 durch die beklagte Krankenkasse als Einzugsstelle. Die Krankenkasse verneinte die Befreiung von der Versicherungspflicht (Bescheid vom 23.09.2005 und Widerspruchsbescheid vom 20.04.2006), da der der Kläger in diesem Zeitraum laut Anstellungsvertrag im Unternehmen seines Vaters beschäftigt war. Mit Urteil vom 26.11.2008 hat das Sozialgericht festgestellt, dass eine Versicherungspflicht bestanden hat und die Klage abgewiesen.
LSG verneint Rentenversicherungspflicht
Das Landessozialgericht hat auf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 22.09.2010 festgestellt, dass im streitigen Zeitraum keine Sozialversicherungspflicht bestanden habe. Einerseits könnte aufgrund des Anstellungsvertrags sowie der fehlenden Geschäftsführer- und Gesellschafterstellung des Klägers von einer abhängigen Beschäftigung ausgegangen werden, andererseits deuten die tatsächlichen Verhältnisse (Übertragung der Unternehmensleitung durch den Vater mit Verzicht auf das Weisungsrecht sowie die Gewinnbeteiligung) auf eine selbstständige Tätigkeit. Laut LSG kommen den tatsächlichen Verhältnissen bei der rechtlichen Beurteilung Vorrang gegenüber den vertraglichen Regelungen zu.
BSG: Tätigkeit des Betriebsleiters kann als abhängiges Beschäftigungsverhältnis eingestuft werden
Diese Sicht hat das Bundessozialgericht mit seinem Urteil verneint und eine Versicherungspflicht des Betriebsleiters der Familiengesellschaft in den Jahren 1996 bis 1999 festgestellt. Ausgangspunkt der Prüfung, ob die Tätigkeit des Klägers im Rahmen einer Beschäftigung oder selbstständig ausgeübt wurde, ist der „Anstellungsvertrag“ vom 11.02.1986. Im Vertrag wurde ein regelmäßiges Entgelt, feste wöchentliche Arbeitszeit, Urlaubsansprüche nach dem Bundesurlaubsgesetz und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vereinbart. Nach der Einsetzung als Betriebsleiter wurden aber keine rechtlich relevanten Änderungen des „Anstellungsvertrags“ getroffen.
Eine Selbstständigkeit des Klägers in seiner Tätigkeit als Betriebsleiter ergibt sich nicht daraus, dass der Vater des Klägers in seiner Funktion als Alleingesellschafter durch Gesellschafterbeschluss vom 30.04.1996 auf „das Weisungsrecht“ gegenüber dem Kläger verzichtete und diesem das Recht einräumte, seine Arbeits- und Urlaubszeit „nach Lage der Gesellschaft“ frei zu bestimmen. So bewegen sich die Betriebsleitertätigkeiten im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung, wenn sie – wie hier – fremdbestimmt bleiben, weil sie in einer von anderer Seite vorgegebenen Ordnung des Betriebes aufgehen. Die Gewährung einer Tantieme als solche genügt nicht, um eine Beschäftigung auszuschließen. Außerdem spricht der Umstand, dass der Kläger und seine Schwester trotz Übertragung bereichsbezogener Leitungsfunktionen nicht zu Geschäftsführern berufen wurden, dafür, dass sich der Allein-Gesellschafter-Geschäftsführer eine Kontrolle und Letztentscheidungsbefugnis zumindest bezüglich grundlegender unternehmerischer Entscheidungen vorbehalten wollte. Die familiäre Verbundenheit an sich kann die Rechtsmacht, wie sie sich aus dem Gesellschaftsrecht und der Funktion des Vaters als alleinigem Gesellschafter-Geschäftsführer ergibt, nicht außer Kraft setzen. Die bestehende „Schönwetter-Selbstständigkeit“ (der Vater setzt sein Weisungsrecht – zumindest bis zu einem Konfliktfall – nicht ein) reicht zu einer abweichenden Beurteilung der Tätigkeit des Klägers nicht aus.